Stell dir vor, du hast gerade eine Transaktion in Bitcoin bestätigt bekommen. Du siehst die Bestätigung in deiner Wallet, alles scheint in Ordnung zu sein. Doch plötzlich, ein paar Minuten später, verschwindet deine Transaktion. Stattdessen erscheint eine andere - mit einem anderen Verlauf. Das ist keine Fehlfunktion. Das ist eine Blockchain-Reorganisation.
Was ist eine Blockchain-Reorganisation?
Eine Blockchain-Reorganisation, oft kurz reorg genannt, ist ein Prozess, bei dem ein Blockchain-Netzwerk einen Teil seines historischen Blocks verwerfen und durch einen anderen, längeren Pfad ersetzen muss. Das passiert, wenn zwei Miner gleichzeitig zwei unterschiedliche Blöcke finden, die beide gültig sind. Beide Blöcke werden vorübergehend von verschiedenen Teilen des Netzwerks akzeptiert. Doch sobald ein neuer Block auf einem der beiden Pfade hinzugefügt wird, wird der kürzere Pfad aufgegeben - und damit auch alle Transaktionen, die darin enthalten waren.
Diese Situation ist kein Fehler. Sie ist ein natürlicher Teil von Proof-of-Work-Blockchains wie Bitcoin oder Ethereum (vor dem Upgrade auf Proof-of-Stake). Das Netzwerk hat keine zentrale Instanz, die entscheidet, welcher Block „richtig“ ist. Stattdessen folgt es einer einfachen Regel: Der längste gültige Kettenabschnitt gewinnt. Wenn sich ein längerer Pfad bildet, wird der kürzere Pfad abgebrochen - und das ist die Reorganisation.
Wie entsteht eine Reorganisation?
Es beginnt mit einem Netzwerk-Verzweigungspunkt. Angenommen, Miner A und Miner B finden gleichzeitig zwei gültige Blöcke, die beide auf dem gleichen vorherigen Block aufbauen. Miner A baut Block 1001 auf Block 1000, Miner B baut Block 1001’ auf Block 1000. Beide Blöcke haben denselben Vorgänger, aber unterschiedliche Inhalte - etwa unterschiedliche Transaktionen oder unterschiedliche Zeitstempel.
Einige Knoten im Netzwerk empfangen zuerst Block 1001, andere Block 1001’. Beide Blöcke sind kryptografisch gültig. Sie haben die richtige Hash-Prüfsumme, sie erfüllen die Schwierigkeitsanforderung. Also akzeptieren die Knoten beide - vorübergehend. Die Blockchain hat sich in zwei Zweige aufgespalten.
Nun kommt Miner C ins Spiel. Er findet den nächsten Block - Block 1002 - und baut ihn auf Block 1001’. Plötzlich hat der Pfad mit Block 1001’ eine Länge von drei Blöcken: 1000 → 1001’ → 1002. Der andere Pfad hat nur zwei: 1000 → 1001. Der längere Pfad gewinnt. Alle Knoten, die vorher Block 1001 akzeptiert hatten, müssen jetzt zurückgehen, Block 1001 verwerfen und stattdessen den neuen Pfad mit Block 1001’ und 1002 übernehmen.
Diese Rücksetzung ist die Reorganisation. Transaktionen, die in Block 1001 enthalten waren, werden wieder in den Transaktionspool zurückgesetzt - sie sind nicht mehr bestätigt. Sie können in einem späteren Block neu aufgenommen werden, aber nur, wenn sie gültig bleiben und nicht doppelt ausgegeben wurden.
Wie oft passiert das?
Bei Bitcoin passieren Reorganisations mit einer Tiefe von einem Block fast täglich. Sie sind so häufig, dass Wallet-Anbieter und Börsen normalerweise erst ab sechs Bestätigungen (also sechs Blöcke nach der Transaktion) als „sicher“ gelten. Eine Reorganisation von zwei Blöcken ist selten - etwa alle paar Wochen. Eine Reorganisation von drei Blöcken oder mehr ist extrem selten - und bei Bitcoin noch nie dokumentiert worden.
Warum? Weil Bitcoin so viele Rechenleistung hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner Miner zwei Blöcke hintereinander schneller findet als das gesamte Netzwerk, ist astronomisch klein. Bei kleineren Blockchains wie Litecoin oder Bitcoin Cash passieren Reorganisations häufiger - einfach weil weniger Miner am Netzwerk teilnehmen. Hier ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein einzelner Miner oder eine Mining-Pool-Gruppe kurzzeitig mehr Rechenleistung hat als der Rest des Netzwerks.
Was passiert mit Transaktionen während einer Reorganisation?
Wenn eine Transaktion in einem Block liegt, der durch eine Reorganisation verworfen wird, wird sie nicht gelöscht. Sie wird zurück in den MemPool - den Speicherbereich für unbestätigte Transaktionen - verschoben. Von dort aus kann sie erneut von Minern aufgenommen werden, wenn sie noch gültig ist.
Aber: Wenn dieselbe Transaktion inzwischen in einem anderen Block des längeren Pfades enthalten ist, wird sie als Doppelausgabe erkannt und abgelehnt. Das Netzwerk verhindert, dass dieselben Coins zweimal ausgegeben werden. Das ist der Grund, warum du bei einer Reorganisation deine Transaktion verlieren kannst - nicht weil sie verschwunden ist, sondern weil sie in einem anderen Kontext neu verarbeitet wurde.
Das ist auch der Grund, warum du nie sofort eine Bestätigung als endgültig betrachten solltest. Ein einzelner Block ist nur eine Anfangsbestätigung. Zwei, drei, sechs Blöcke später - das ist, wenn du sicher sein kannst, dass die Reorganisation nicht mehr zurückgedreht werden kann.
Reorganisation vs. Hard Fork
Es ist wichtig, eine Reorganisation nicht mit einem Hard Fork zu verwechseln. Ein Hard Fork ist eine bewusste Änderung der Regeln des Netzwerks - etwa eine neue Blockgröße oder ein anderer Konsensmechanismus. Alle Knoten müssen diese Änderung akzeptieren, sonst teilt sich die Blockchain in zwei separate Ketten - wie bei Bitcoin und Bitcoin Cash im Jahr 2017.
Eine Reorganisation hingegen ist keine Regeländerung. Sie ist eine technische Korrektur, die automatisch passiert, wenn das Netzwerk feststellt, dass ein anderer Pfad länger ist. Es gibt keine neuen Regeln. Es gibt nur einen anderen Verlauf der Vergangenheit - und das Netzwerk entscheidet sich für den längsten.
Wie schützt du dich vor Reorganisationen?
Als Nutzer hast du nur wenige Möglichkeiten, dich zu schützen - aber sie sind effektiv:
- Warte auf mehrere Bestätigungen. Sechs Bestätigungen sind der Industriestandard. Bei Bitcoin bedeutet das etwa eine Stunde. Bei Ethereum (nach dem Merge) sind drei bis fünf Bestätigungen ausreichend, weil die Blockzeit kürzer ist.
- Vermeide sofortige Auszahlungen. Wenn du eine Ware verkaufst und sofort nach einer Bestätigung lieferst, bist du anfällig für Reorganisations. Warte mindestens 30 Minuten.
- Verwende Wallets mit Reorg-Erkennung. Einige Wallets zeigen dir an, ob eine Transaktion bereits in einer Reorganisation betroffen war. Das ist besonders nützlich für Händler.
- Verstehe, dass Reorganisations nicht betrug sind. Sie sind ein technisches Feature, kein Angriff. Selbst bei einer Reorganisation von drei Blöcken bleibt die Blockchain sicher - sie ist nur konsistent geworden.
Warum ist das wichtig für Kryptowährungen?
Reorganisations sind der Preis für eine dezentrale, ohne Autorität funktionierende Technologie. Sie zeigen, dass kein einzelner Akteur die Blockchain kontrollieren kann - nicht mal ein großer Miner. Das Netzwerk entscheidet selbst, welcher Pfad „wahr“ ist - und das ist der Kern der Blockchain-Sicherheit.
Wenn du verstehst, wie Reorganisations funktionieren, verstehst du auch, warum Bitcoin so sicher ist. Es braucht immense Rechenleistung, um einen längeren Pfad zu erzeugen. Und das macht es für Angreifer unmöglich, Transaktionen rückgängig zu machen - es sei denn, sie besitzen mehr als 50 % der gesamten Netzwerk-Rechenleistung. Das ist der Grund, warum 51%-Angriffe so selten sind: Sie sind teuer, sichtbar und meist nicht lohnend.
Reorganisations sind kein Fehler. Sie sind die Selbstkorrektur einer dezentralen Maschine. Sie sorgen dafür, dass die Blockchain nicht von einem einzelnen Knoten oder Miner manipuliert werden kann. Sie sind der Mechanismus, der die Wahrheit der Blockchain durch Zahlen und Kryptografie festlegt - nicht durch Vertrauen.